"Mein Kind ist jetzt ein Engel"

"Vielleicht siehst du sie kommen. Vielleicht erwischt sie dich aus heiterem Himmel. Die Welle. Sie bricht über deinem Kopf zusammen und drückt dich unter Wasser. Sie reisst dich hinunter in die Kälte, die Dunkelheit, das Nichts. Du kämpfst dich wieder hoch, schnappst nach Luft. Das Wasser beruhigt sich, der Sturm zieht weiter. Alles scheint wieder normal. Wie vorher. Und doch ist alles anders."


Ein Lebenssturm kommt meist plötzlich und unerwartet. So auch bei der Familie Kreuzer aus Flaach (ZH). Mit der Geburt von


Wenige Monate nach der Geburt bekommt der «Strahlemann» die Diagnose Krebs. Der gerade einmal neun Monate alte Max hat einen Hirntumor. Bei den meisten an Hirntumoren erkrankten Kindern wird operiert. Innert drei Monaten musste Max acht Operationen über sich ergehen lassen.

Der Tumor selbst war jedoch wegen seiner Lage in Max’ Gehirn inoperabel und zu allem Überfluss auch chemoresistent. Dementsprechend waren Max’ Überlebenschancen gering. Drei strapaziöse Monate zwischen Kinderspital und zuhause, später Klarheit:
Die Ärzte können nichts mehr tun. Max wird sterben.

«Er spürte, dass er sterben wird»

Die Eltern nahmen das Baby aus dem Kinderspital. Weg vom Spitalgeruch. Weg von Schläuchen, Kabeln und Maschinen nach Hause in das vertraute Heim.
Dort genoss die Familie die letzten Wochen und Momente mit ihrem Max.

Sein Zustand änderte sich schnell, erinnert sich seine Mutter Belinda Kreuzer. Plötzlich konnte das 14-Monate alte Baby nicht mehr sitzen, das Essen musste ihm mit einer Spritze gegeben werden und zum grössten Teil habe er nur noch geschlafen. Dieser Anblick war für Belinda Kreuzer nicht einfach. Die 40-Jährige vermutet, dass Max ahnte, dass er gehen muss. Als er immer abwesender wirkte und nur noch ins Leere blickte, wusste sie, das Ende kommt näher. Sie akzeptierte ihr eigenes und sein Schicksal und liess ihn gehen.

Dem Tod einen Sinn geben

Wie ist es als Eltern, sein eigenes Kind zu verlieren? Niemand versteht betroffene Familien besser als solche, die das selbst erlebt haben. Durch ein so tragisches Schicksal ist der Verein Sternentaler entstanden. Die Gründerin, Brigitte Trümpy Birkeland, hat ihren 10-jährigen Enkel an einem Hirntumor verloren.
Trotz jahrelangen Kampfs, Höhen und Tiefen, hat der kleine Till den Krebs nicht überlebt. Er verstarb vier Jahre nach der Diagnose im Alter von zehn Jahren. Brigitte Trümpy Birkeland hat mit Sternentaler seinem Tod einen Sinn gegeben.


«Hinschauen statt wegschauen»

Seit dem Jahr 2015 gibt es den Verein aus dem Glarner Netstal, welcher die ganze Deutschschweiz betreut. Er hilft rund 200 sogenannten «Sturmfamilien». So nennt der Verein die Familien, da sie sich in einem Lebenssturm befinden. Der Sturm, der die Familie aufwühlt, das Leben auf den Kopf stellt. Durch diesen Sturm ziehen sich oftmals Familienmitglieder zurück und das nähere Umfeld wendet sich ab.

Aber warum? Gerade dann, wenn die Hilfe am meisten benötigt wird. Auf der Trauerreise kann betroffenen Eltern ein unterstützendes, verständnisvolles Umfeld helfen. Diese Aufgabe überfordert das Umfeld aber teilweise.

Der Tod eines Kindes ist ein Tabuthema – eines, das gebrochen werden muss, findet Brigitte Trümpy Birkeland. Ihr Motto ist: «Hinschauen statt wegschauen, wenn eine Familie aus ihrer alten, vertrauten, sicheren Welt gerissen wird.» Dies gilt nicht nur für Familien, die ein Kind verloren haben. Sternentaler betreut vor allem Familien mit einem schwer kranken oder beeinträchtigten Kind.

Eine gläserne Wand trennt vom alltäglichen Leben

Mit einer Krebsdiagnose beginnt für die Familien nicht nur der Kampf gegen den Tod, sondern auch der Kampf gegen die Isolation. Auch Brigitte Trümpy Birkeland war nach der Diagnose von Till hinter einer, wie sie sagt, «gläsernen Wand». Diese trennt die Familie von allen anderen Menschen. Und immer noch weichen viel zu viele den Betroffenen aus. Fragen nichts und sagen nichts. Tun so, als sei nichts passiert oder wechseln die Strassenseite. Dabei würden die Worte «Ich weiss nicht, was sagen» ausreichen, so Trümpy Birkeland. Ihr Ziel ist es mit dem Verein Sternentaler Betroffenen eine Stimme zu geben. Tabu-Themen wie «Tod» oder «Krankheit» zu brechen. Deshalb bietet die 69-Jährige Hilfe auf einer Online-Plattform an. Dort führt sie ein öffentliches Tagebuch. Ausserdem können sich betroffene Sturmfamilien austauschen.

Ein Hund oder doch ein Engel?

Hilfe zur Selbsthilfe - das ist laut Sternentaler der erste Schritt in die richtige Richtung. Der Verein unterstützt die sogenannten Sturmfamilien nicht nur bei der Bewältigung ihres Lebenssturms und beim Austausch ihrer Geschichten, er hilft ihnen auch beim «Abschalten». Meist bleibt während eines Lebenssturms nicht viel Zeit.
Die Agenda ist voll mit Terminen wie Spitaluntersuche, Therapien oder Operationen. Selbst für banale Dinge, wie der Haushalt bleibt oft wenig Zeit. In der schweren Phase eines Sturms, können Familien nicht einfach einen Tag Pause machen. Es gibt keine Pause im Lebenssturm. Dadurch geht die Unbeschwertheit bei Betroffenen oft verloren.

Diese will Sternentaler den betroffenen Familien zumindest für ein paar Stunden zurückgeben. Der Verein bietet unter anderem sogenannte «Fellnasen-Einsätze» an. Dabei kann das betroffene Kind mit einem Therapiehund zusammen Zeit verbringen, knuddeln oder auch spazieren gehen.

Der 14-jährige Sandro Graf beispielsweise trifft sich seit rund vier Jahren mit der Therapiehündin Sari aus St. Gallen. Er hat als kleines Kind eine Hirnblutung erlitten und ist seither beeinträchtigt. Der 14-Jährige leidet unter anderem an einer Epilepsie, kann nicht gut gehen und hat nur noch eine Sehkraft von 15 Prozent.
Durch das monatliche Treffen mit der Hündin von Caroline Fuchs, ehrenamtliche Mitarbeiterin von Sternentaler, hat Sandro weniger Schmerzen. Ausserdem hat er laut eigener Aussage mit der Flatcoated-Retriver-Hündin seine grosse Liebe gefunden.

Hirntumoren bei Kindern
Hirntumore sind eine der häufigsten Krebserkrankungen im Kindsalter. 15 bis 20 Prozent der Hirntumore treten bei Kindern auf, schreibt die Universitätsklinik Freiburg. Laut einer Statistik des Bundesamts für Gesundheit (BAG) erkrankten zwischen 2008 und 2012 pro Jahr 190 Kinder an Krebs. Rund 30 starben daran. Die Heilungschancen haben sich in den letzten Jahren aber wesentlich verbessert. Die Überlebensrate liegt mittlerweile bei rund 85 Prozent. Die Schweiz gehört damit zu den Ländern mit den besten Behandlungsergebnissen bei Kindern mit einer Krebserkrankung, so das BAG.